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Hinter Glas

Ich bin allein mit der Stille des Raums. Draußen bricht die Nacht an. Das Sofa, auf dem ich die nächsten Stunden verbringen werde, ist in Licht gehüllt. Die Tür steht offen. Ich lege mich auf den blauen Diwan und spreize die Beine. Meine nach außen fallenden Schenkel formen ein weißwandiges Rechteck. Mich umhüllt künstliches Licht. Mondweiße Haut, aschblondes Haar. Mein Kopf liegt auf weißem Leinen, der Rest auf blauem Samt.
Die Innenseiten meiner Schenkel sind besonders weich und noch heller als die übrige Haut. Nur ich kann sie sehen. Mein Schoß pulsiert unter dem krausen Dreieck zwischen meinen Beinen.
Um Mitternacht kommt der Mann mit dem Fahrrad. Er fährt langsam. Unsere Blicke begegnen sich kurz. Ein schwarzes Herrenrad mit einem schwarz gekleideten Mann, verschluckt von der Nacht.
Das beharrliche Schwarz vor dem Fenster wird nur von der flüchtigen Gestalt auf dem Fahrrad durchbrochen. Die Tatsache, dass es nichts gibt, das wirklich ist außer meinem Körper, verschafft mir Lust. Ich weide mich an meiner tadellosen Haut, samtig weich und glatt, an meinen wohlgeformten langen Beinen, den eleganten kleinen Füßen.

Als Kinder sammelten wir Marienkäfer. Wir sperrten sie in Marmeladengläser, die wir zuvor mit ausgerupften Grasbüscheln gepolstert hatten und verschlossen die Gläser mit Deckeln, die wir sorgfältig mit winzigen Belüftungslöchern versehen hatten. Die Käfer krabbelten an den Innenwänden hoch und wieder herunter. Sie versuchten nicht einmal zu fliegen. Auf dem Glas hinterließen sie gelbes Sekret, wir konnten uns nicht einigen, ob es sich dabei um Ausscheidungen oder Eier handelte. Einige entfalteten ihre Flügel, wie um zu überprüfen, ob die Gefangenschaft sie bereits zerstört habe. Über Nacht vergaßen wir die Käfer, und als wir uns wieder an sie erinnerten, schienen sie kraftlos und matt, sie bewegten sich kaum. Wir verloren das Interesse und bei unserem nächsten Besuch waren die vom Bauch abstehenden schwarzen Insektenbeinchen vertrocknet. Wir warfen die Gläser in die Mülltonnen vor dem Haus, ohne vorher nach Überlebenden gesucht zu haben.

Die Laterne vor dem Fenster erlischt am frühen Morgen. Ich liege im dämmrigen Schatten und erwache frierend.
Die Bezahlung ist gut. Das Geld wird pünktlich überwiesen. Jeden Monat. Als Debitor ist eine Zahlenkombination angegeben.
Ich weiß weder wer mein Auftraggeber ist, noch wie lange dieses Arrangement aufrecht erhalten wird. Dabei habe ich mich an das Geld gewöhnt und daran, begehrt zu werden. Daran vielleicht noch mehr.

Wenn der Morgen graut, greife ich nach meinen Kleidern und mache mich auf den Heimweg. Ich bin allein mit dem Echo meiner Schritte. Über mir zeichnet eine Krähe ihren Flug in den Himmel.
Die Fenster in meinem Hauses sind blind und vor der Tür wartet ein schwarzes Rad.
Iris.8 - 13. Mai, 17:47

Das ist ja eine ganz wunderbare Geschichte! Ein Genuss in Sprache und Inhalt, so zurückgenommen und alles Wesentliche da. Raum zur Identifikation und Interpretation. Hier mündet etwas hinein, das in kleinen zerfaserten Stücken schon an verschiedenen Stellen gestreut lag, auf der Suche. (So scheint es mir. Es hat sich gelohnt.) Gefällt mir sehr, sehr gut.
Liebe Grüße, Iris

Weberin - 13. Mai, 18:01

Dieser Kommentar, liebe Iris, gefällt mir auch sehr sehr gut ;-). Danke.
bonanzaMARGOT - 13. Mai, 18:38

stundenlang könntest du von deinen schenkeln erzählen ...

haushundhirschblog - 14. Mai, 22:59

Liebe Weberin,
wie gerne ich diesen Text von Dir gelesen habe. Zunächst hielt ich den Atem an, und dann immer mehr. Bis mich die Marienkäfersorglosigkeit so sehr an meine eigene erinnerte und ich schmunzeln konnte, ein wenig bitter vielleicht. Das gelbe Sekret roch damals ähnlich. Vielleicht war es ja Angstschweiß. Ein phantastischer Text.
Danke!
mb

Weberin - 17. Mai, 09:44

Der Marienkäferabsatz hat tatsächlich viel autobiografisches.
Danke für das wohlwollende Lesen.
schneck08 - 16. Mai, 00:45

Ein Arrangement und die Bezahlung dessen. Wie im Film.

Weberin - 17. Mai, 09:45

Tatsächlich hat die Geschichte ihren Ursprung in einem Bild von Paul Delvaux. Und diese Bilder sind kleine Filme, wie ich finde, weshalb mich Ihre Einschätzung nicht wundert, nur freut, weil sie zeigt, dass ich das Bild annähernd gut einfangen konnte.
Samara-M - 17. Mai, 08:12

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"dass es nichts gibt, das wirklich ist außer meinem Körper, verschafft mir Lust.", für mich enterotisiert das die lustaufgeladene Worte. Es ist nicht die Körperlichkeit, es ist das Fehlen der Wärme, die eine Körperlichkeit ausmacht; so, als wäre in dem Satz eine Andeutung, ein Bezug zu den Marienkäfer [und dem Titel], die eines der wenigen Insekten sind, die Kinder lieben vor denen man sich nicht ekelt und die dann grausam im Marmeladen vertrocknen. Es ist das Fehlen der Beseeltheit, die mich schaudern lässt.

"Die Fenster in meinem Hauses sind blind und vor der Tür wartet ein schwarzes Rad." Dein letzter Satz, steht im Kontrast zu meinen gesammelten Gedanken dieser Tage: Die Häuser haben zu viele Türen und Fenster.
Ihre Fenster sind blind und vor der Tür wartet ein schwarzer Rand.

Merkwürdigerweise sind beide unserer Sätze gruselig-wie ich finde. Deiner weist auf eine Abgestorbenheit hin und meiner auf den fehlenden Schutzraum, den das Haus bieten sollte, fehlende Geborgenheit.

Weberin - 17. Mai, 09:47

Danke für das Herauslesen dieses Aspektes, der unter all der scheinbaren Erotik liegt.
Sofasophia - 17. Mai, 12:53

mich hat der kontrast - heute und rückblick - sehr berührt. ein text, den ich gerne gelesen habe. ein beklemmendes gefühl bleibt an mir kleben.
das ist deine kunst.

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Zuletzt aktualisiert: 6. Apr, 12:59

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