Zeit
Es gibt nichts zu verstehen. Sie ist vom ersten bis zum letzten Atemzug ein unverständlicher Ausdruck von Zeit.
Wir haben keine Zeit uns zu fassen. Die Zeit verläuft sich zwischen uns.
Jemand hat ihr erzählt, dass es sieben Jahre dauert.
Sie glaubt nicht was erzählt wird. Deswegen hat sie nicht gefragt, was er meint.
Der Morgen legt die dunklen Kleider der Nacht ab. Sie zieht sie an. Sie zieht alles an, was andere ablegen.
Sie stellt sich schon lange nichts mehr vor. Sie stellt es dar.
Vor ihrem Fenster die scharfen Silhouetten der Bäume.
Mitten in der Nacht waren sie aufgebrochen, am frühen Nachmittag kam sie an. Irgendetwas kehrte zurück. Sie stand am Ufer. Meine Gedanken sind wie die Wellen, dachte sie. Ich werde nichts vergessen und mich an nichts erinnern.
Die Wellen spülen alles an Land, was sie mitgenommen haben.
Sie steht am Ufer und wartet, dass die an- und abebbenden Wellen ihre Füße jedes Mal ein wenig tiefer in den Sand graben.
Eines Nachmittags, sie ist vielleicht sechzehn oder siebzehn, sitzt sie am Schreibtisch und will über ihren Vater schreiben, als sie merkt, dass alle Worte, die ihn bezeichnen könnten, mit ihm gestorben sind.
Jede Nacht läuft sie die Häfen ihrer Kindheit an. Versucht an Land zu gehen und wird erneut abgetrieben. Nacht für Nacht wiederholt sich dieses Schauspiel. Der Morgen ist zu hell, die Nacht zu schwarz. Nirgends die kindlichen Farben.
Früher, sagt sie, als die Worte noch rosa waren und die Himmel blau.
Früher, als man beim Erwachen noch dieses Kribbeln im Bauch hatte.
Als es noch keine Schnittstellen gab, zwischen Vergangenheit und Zukunft.
Nur das Jetzt.
Die gefühlte Zeit verweigern. Dem Tag die Wut der vergangenen Jahre entgegenhalten.
Wir verdunkeln die Fenster, stellen die Musik lauter. Schließen die Augen. Aber die Träume gleichen der Wirklichkeit und die Musik ist so traurig wie unsere sehr leisen Gedanken.
Wir reden von der Zukunft. Du sagst, dass es wieder Sommer wird. Aber wir wissen beide, dass der Frühling für immer vorüber ist.
Vielleicht erinnern sich die Bäume, dachte sie, an das erste Mal, als sich der Regen schwer auf ihre Blätter legte. Erfrischend zunächst, kühl und dann schwer. Wie sie auf den Wind warteten, damit er ihnen half das Wasser abzuschütteln, es erneut regnen zu lassen, diesmal aus eigener Kraft, um all das, was schwer auf ihnen lastete, los zu werden.
Oder an die Verwunderung, Verzückung als die Blätter sich das erste Mal färbten, an den heiligen Schreck, als sie sich lösten und zu Boden schwebten.
An den ersten Winter, als sich Schnee auf die nackten Äste legte, um sie zu trösten, zu wärmen, ihnen vom Frühling zu erzählen, der jetzt bald kommen würde, mit neuen Knospen, mit der Rückkehr der Vögel und ohne Schnee. Der Schnee würde warten müssen, sobald der Winter vorbei war, ganz hoch in den Wolken würde er alles betrachten, den Baum bewachen und die Liebenden zu ihm schicken, damit sie ihre Namen in seinen Stamm ritzten, um sich zu erinnern, irgendwann, wenn fast alles vergessen war und sie stehen vor diesem Baum ihrer Erinnerung und fragen sich, ob Bäume sich erinnern.
Ich verliere mein Gesicht, meine Vergangenheit. Das Alter zeichnet mein Gesicht nicht, es löscht die Züge aus. Alles verschwimmt. Es gibt mich nicht mehr. Ich bin die Leere. Ich bin ein Neubeginn ohne Zukunft, weil ich keine Vergangenheit habe. Meine Krankheit hat einen Namen. Ich nicht.
Der Sommer ist eine Lieblingsfrucht der Zeit. Aufgeweckt. Saftig und satt. Farbenfroh. Die Zeit ist eine Liebhaberin der Adjektive, weil sie die Macht hat, sie zu verändern. Veränderung und Stillstand. Und die Zeit, die über all das hinweg geht.
Die Zeit spielt mit uns, fällt ihre vorschnellen Urteile, zeichnet uns. Ein brauchbares Stück Geschichte, das uns zum Hals hinaus hängt. Ein dummes, kleinliches Geschwür.
Erst später wächst sie über sich hinaus. Und wir vertrauen uns an. Ändern uns. Zweifeln. Führen Gespräche, ohne uns den Worten zu verschreiben. Stellen die richtigen Fragen und rücken die Antworten ins falsche Licht.
Dann schweigen wir und etwas beginnt in der Stille zu wachsen.