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Juli 2011
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Was stirbt zuletzt, die Hoffnung oder die Angst?

„Angefangen hatte es mit der Angst.“
Das ist der erste Satz von Emily L., einem meiner zahlreichen Lieblingsbücher von Marguerite Duras.
Ich denke dieser Satz ist universal. Ein Satz, der auf alles zutrifft, auf alle vorstellbaren Ausgangssituationen. Jede Lüge, jede Schwierigkeit und jede Gemeinheit fängt mit der Angst an. Jede Kultur, jedes Zusammenleben auch.
Musik, Malerei, Literatur haben ihren Ursprung in der Angst.

Am Anfang war das Wort, und das Wort war Angst vor der Stille, die Unmöglichkeit wirklich auf sich selbst geworfen, existieren zu können. Ein unteilbares Individuum, das nicht leben kann, ohne den Versuch, sich mitzuteilen.
Angst hat dem etymologischen Ursprung nach auch die Bedeutung von Beengung. Angst macht unser Denken schmal und eindimensional. So dass sich all unsere Aufmerksamkeit auf Flucht und Überleben konzentrieren kann.
Was aber, wenn man in einer Gesellschaft lebt, in der Flucht nicht notwendig ist und für das Überleben gesorgt wird, und die Angst bleibt?
Als Angst vor denjenigen, die aus dieser alten archaischen Angst heraus ihr Land verlassen haben, um zu überleben?
Wenn die Angst längst kein real erlebbares Phänomen mehr ist, aber darum nicht weniger wirkmächtig? Als Instrument, um Meinungen zu lenken, ohne Argumente zu haben.
Gegen diese Art der Angst hilft nur Aufklärung, sollte man denken. Auseinandersetzung. Was aber, wenn die Anhänger der Angst sich nicht auseinander setzen wollen mit dem Vorhandensein, oder eben nicht Vorhandensein der Gründe für ihre Angst? Wenn sie sich wohl fühlen in einer behaupteten diffusen Notwehr, wenn sie denjenigen glauben, die nicht aufhören von der Überlegenheit der einen über die anderen zu predigen?
Was, wenn es keine Wahrheit gibt, nur viele kleine Wahrheiten und keine Angst, nur viele kleine persönliche Ängste?
Fängt dann etwas an? Fängt dann wenigstens etwas an aufzuhören?
maryamana - 30. Jul, 21:13

Angst

Ja- diese Sache mit der Angst [ich bin übrigens maryam und hatte hier schon einen längst vergessenen Account]. Es gibt so viele Sorten Ängste- merke ich die Tage. Früher hielt ich mich für besonders mutig, da ich keine Angst hatte allein im Dunklen unterwegs zu sein, Zivilcourage zeigte, wo andere kniffen und Neuem eher aufgeschlossen bin. Heute sehe ich das ganz anders, weil ich meine eigenen Ängste entdecken durfte, viel schlimmere als die genannten Monster.

Für die Angst über die du schreibst würde nur Aufklärung helfen, schreibst du und ich glaube, dass gegen keine Angst Aufklärung hilft, jedenfalls keine rationale. Die Angst ist vor allem im Unbewussten verzwurzelt und das ist der Grund, warum sie solche Macht über uns besitzt.

Weberin - 31. Jul, 07:16

Aufklärung

Liebe Maryam,
leider hast du vollkommen Recht, Aufklärung hilft nicht gegen Angst. Dieser Glaube ist eine alte Krankheit der "entzauberten Welt", die die Magie durch das Verstehen und die Analyse ersetzen will.
Dass ist der Glaube an die eine, allgemeingültige Wahrheit, den ich so gefährlich finde. Was die Angst angeht, ist es meiner Meinung nach die Aufgabe, sie auszuhalten, statt sie weg zu erklären. Auszuhalten, dass es Dinge gibt, die anders sind, die wir so nicht haben wollen, und dann - vielleicht - zu begreifen, dass es keine Bedrohung gibt, nur Menschen, die anders leben als wir.
la-mamma - 31. Jul, 07:54

und die, die sich mit ihren diffusen ängsten "falsch" auseinandersetzen, werden paranoid, und richten womöglich noch mehr schaden an ...

Weberin - 31. Jul, 08:53

Fraglos

Ja, ich fürchte das sind die, die immer schon eine Antwort haben.
Sherry_ - 2. Aug, 18:49

...

Liebe Weberin,

gegen viele Arten der Angst hat die Aufklärung tatsächlich geholfen. Gegen die Angst davor, dass bei Donner Gott böse auf uns ist und er uns bestrafen will. Gegen die Angst davor, dass Dämonen uns schlechten Kinder abends abholen und dann fressen werden. Gegen die Angst davor, dem Gott des Regens nicht genug Opfer gebracht zu haben, um die Täler und Wälder wieder wachsen zu lassen. Gegen diese Angst hat die Aufklärung geholfen, da bin ich mir sicher.

Dann haben wir diese andere Art von Ängsten. Einmal die pathologische Angst (in Form von Angsstörungen, Panikstörungen, Generalisierte Angststörungen, Phobien) und einmal die Alltagsangst. Ich nehme einmal an, Du sprichst von der Alltagsangst. Die Diffuse, die sich gar nicht wirklich in Worte fassen lässt. Die eine Mischung ist aus Verlustsängsten, Existenzängsten, Zukunftsängsten, Angst vor Nähe, Angst vor der Einsamkeit, Angst vor dem Sterben in ferner Zukunft, Angst vor Veränderungen… Dagegen hilft wirklich, wenn überhaupt, tatsächlich eine sehr intensive Auseinandersetzung. Man muss Befürchtungen zulassen, damit man sie irgendwann "überwinden" kann. Man muss sich die schlimmste Situation vorstellen, die man sich vorstellen kann und sie immer wieder durchmachen, um sich dagegen zu impfen. Aber dafür braucht man Anhaltspunkte darüber, wovor man eigentlich Angst hat, und das ist wirklich schwer. Das wird immer schwieriger. Denn alles ist so laut heutzutage.

Es gibt keine wirkliche Lösung. Es gibt nur individuelle Lösungen. Ich kann mir aber vorstellen, dass alles, was sich als Fundament und festen Boden anbietet, Angst vermindern kann. Religion für die einen, Patriotismus für die anderen, Rituale, Tradition, persönliche Gewohnheiten, eine ordentliche Wohnung, Daueraufträge, damit die Miete immer rechtzeitig überwiesen wird… Oder die Ehe, ein enger Bezug zur Familie. Für andere wiederum bedeuten genau diese Dinge große Angst. Jeder muss das selber schaffen, irgendwie. Und ja, das macht einsam. Und Einsamkeit macht Angst.

Für mich bedeutet Schreiben manchmal Angst und manchmal Angstreduktion. Angst, weil ich Dinge benennen muss, die ich nicht sehen will. Angstreduktion, weil das Monster dann endlich einen Namen hat. Es ist jedesmal anders. Ich habe meinen Weg noch nicht raus. Eine Familie zu haben, gibt mir Sicherheit, aber auch Angst, sie zu verlieren. Sie wird uns immer treiben, diese Angst. Vor allem in einer Zeit, in der sich täglich 10000 Sachen zukunftsweisend ändern. In einer Zeit, in der unsere Sinne keine Sekunde Pause finden, ständig hören wir Lärm, Straßen, Autos, Sirenen, Bohrmaschinen. Wir sind ständig in Flucht- und Kampfbereitschaft ohne einen fassbaren Feind. Unsere Körper stehen unter Stress, ohne die Möglichkeit, sich entladen zu können. Das hast Du sehr schön beschrieben. Und das macht uns krank. Körperlich wie auch psychisch. Und das macht Angst.

Ich habe keine Lösung. Trotzdem danke für Deinen Beitrag.

Weberin - 2. Aug, 21:03

Wovor hast du Angst

Vielen Dank für diesen sehr ausführlichen und klugen Kommentar, Sherry.
Ja, die Angst ist ein sehr subtiles Ding, das sich anpassen und verändern kann. Die Ängste der Zeit vor der Aufklärung sind m.M. nach nicht wirklich verwschwunden, nur wegrationalisiert, sie sind ersetzt worden, durch andere Ängste. Vielleicht war das gar nicht so schlecht, gemeinsam Angst vor dem Gewitter zu haben, vor den Toten, deren Gräber man mit einem großen Stein beschwerte, damit sie nicht aus ihrem Erdloch zurück ins Reich der Lebenden kamen, all das schweißte auch zusammen und - was vielleicht noch wichtiger ist - es schadete niemandem. Die Toten waren tot, das Gewitter ein Naturphänomen, dem herzlich egal ist, was Menschen darüber denken. Die Dinge auf die heute gemeinschaftsschaffende Angst projeziert werden, sind weitaus gefährlicher, das Fremde, die Fremden, dass nicht genug für alle da ist, dann lässt man die Flüchtlinge in Lampedusa nicht an Land, und die anderen europäischen Staaten fühlen sich im Recht zu sagen, dieses Problem muss Italien allein lösen.
Vielleicht heißt die eigentliche Frage für jeden einzelnen, wovor hast du Angst, und die größte Angst für uns alle ist die Möglichkeit, dass die Antwort lautet: vor mir selbst.
Sherry_ - 2. Aug, 22:54

...

Danke für Deine Antwort, liebe Weberin. Ich kann sie gut nachvollziehen und musste an vielen Stellen auch nicken. Aber mir sind auch viele Dinge eingefallen. Ich denke, dass die Angst vor Toten, Gewittern, Blitz, Donner, Flüchen und Dämonen doch sehr viel Schaden angerichtet haben. Man konnte diese Mythen und Märchen benutzen, um Menschen ganz hart zu lenken. Kritisches Denken war mit soviel Zauberei und böser Magie quasi unmöglich. Weil wie Du so schön sagtest, lähmt Angst. Das tut sie wirklich. Sie reduziert unseren Gedanken- und Handlungsspielraum. Durch diese Angst haben Weltreligionen schon Kriege gerechtfertigt; und deshalb denke ich, hat die Aufklärung hier durch seine "Sublimierung" der Angst doch einen großen Dienst geleistet.

Natürlich haben wir nun auch andere Ängste. Ob das Ersatzängste aufgrund der Reduktion der anderen Ängste sind, weiß ich nicht. Bezweifle ich sogar. Ich denke, die neuen Ängste unserer Zeit sind gar nicht so neu, sie haben nur eine Form angenommen, die wirklich erdrückend ist. Während wir vor 300 Jahren noch eine vorgeschriebene Biografie hatten, unser Weg klar war, unsere Auswahlmöglichkeiten für die Lebensgestaltung sehr gering waren, werden wir heute von Angeboten, Möglichkeiten und der Verantwortung, unsere Biografie völlig selbständig zu gestalten, quasi erdrückt. Es ist die Vielfalt und die Verfügbarkeit von Möglichkeiten, die uns überfraut und übermannt, die uns ersticken lässt, die uns panisch werden lässt! "Soviele Möglichkeiten und nur ein Leben! Oh Gott, ich habe nur diese eine Chance!" … Das ist einer der größten Herausforderungen unserer Generationen: Ein Leben zu wählen.

Ich habe nur eine von vielen Ängsten herausgefischt, aber ich denke, sie erklärt so einiges. Angst vor der Nähe. "Ist es der Richtige?" Während man damals von einem "erwählt" wurde und - egal wie er war - mit ihm zu Ende gelebt hat, hat man die Wahl, sich zu trennen und neu zu verlieben. Jetzt kannst Du Dir sicher vorstellen, wieviele Zweifel man ständig mit sich trägt. "Was, wenn er doch nicht gut ist? Und was, wenn's doch eher der Stefan ist? Oder der Frank oder die Heike? Ja, vielleicht bin ich ja doch eher mit Frauen besser dran!"

Die Bastelbiografie und der Kampf nach Individualität, ohne sich zu sehr von der Masse abzuheben, um nicht alleine zu sein, ist hier ein weiteres Dilemma.

Es ist so schwer für mich, hierüber ein Kommentar zu schreiben, denn mir fallen ständig neue Gedanken ein.

Wenn Du mich fragen würdest, wovor ich am meisten Angst habe, dann schießt mir eine Antwort besonders laut in den Kopf: Ich habe Angst, Menschen, die ich liebe, zu verlieren. Egal, wie. Diese Angst verfolgt mich oft. Und dann habe ich Angst vor der Menschheit, also auch vor mir selbst. Aber erst an zweiter Stelle. Weil ich hier noch die Illusion im Kopf habe, dass ich da selber etwas Kontrolle habe. Aber bei Punkt 1 eben nicht.

Schlaf' gut.

Weberin - 3. Aug, 19:52

Gewitter

Liebe Sherry,

jetzt komme ich endlich dazu, unser Gespräch weiterzuführen. (ich hoffe, ich schaffe es die Antwort abzuschicken, bevor das Gewitter los geht. Dabei reden wir doch immer wieder über das Gewitter. Kennst Du den zufällig auch dieses Buch, wo derlei Dinge erklärt werden, die Angst vor dem Gewitter usw., ich kann mich gerade nicht an den Titel erinnern, aber sehr wohl daran, dass seine Botschaft eine derjenige ist, die ich aus der Studienzeit in den Alltag hinübergerettet habe).
Du ergänzt meine Aussagen bezüglich der Magie und ihrer Rolle bei der Angstverarbeitung vollkommen berechtigt. Hexenverbrennung und derlei hatte ich tatsächlich ausgeklammert, in dem Moment herrschte für mich die gemeinschaftsschaffende Kraft der magischen Angstmechanismen vor. Es waren Ängste, die jeder kannte, die man miteinander teilet, für die man gemeinsame Rituale und "Lösungen" hatte. Während heute jeder allein ist mit seiner Angst, sich erklären muss und vielfach womöglich gar nicht verstanden wird. Diese Einsamkeit mit der die Angst verarbeitet (oder verborgen) werden muss, ist ja realtiv neu, was mit dem ganzen Prozess der Individualisierung einhergeht.
Es blitzt und donnert schon. Deswegen höre ich jetzt auf. Aber nicht ohne Dir zu sagen, dass ich mich sehr freue, über unser Gespräch über etwas so unfaßbares wie die Angst.

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