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Dienstag, 21. Juni 2011

Restlos

Während sie sich die Punkte notiert, sieht sie aufs Wasser. Auf das Meer. Das Meer ist immer da, sein Geruch, sein Geräusch, es legt sich auf die Haut. Und gerade darum, gerade wegen seiner Allgegenwart ist es wichtig, dass sie sich die Punkte notiert. Der Reihenfolge nach. Ohne etwas zu vergessen.
Nur wenn sie genau bleibt, wenn sie alles behält, können sich die Punkte erst zu Linien und später zu Umrissen, Strukturen, Bildern verbinden.
Bilder, denen sie eine Bedeutung geben kann. Etwas, von dem sie behaupten kann, sie würde jede Eigenart, jede Abweichung genau verstehen. Wenn nötig, könnte sie alles restlos erklären.

Tränenkraut

Ein Platz in der Manege. Träume kommen und gehen. Die Gedanken folgen längst keinem Muster mehr.
Das Gesicht der Frau ist so weiß wie Schnee, die Haare schwarz wie Ebenholz. In den Augen hockt der Tod, alle Schönheit hinter ihm verborgen.
Die Bauern ziehn taleinwärts von der Roggenernte.

Gegen ihre Krankheit ist kein Kraut gewachsen. Vielleicht wird sie sterben. Das kümmert keinen. Wir alle sterben irgendwann.
Aber sie, wie sie dort liegt, so weich und hoffnungslos, das bedeutet uns plötzlich etwas und wir wissen, solange wir leben, werden wir den köstlichen Geruch ihrer Tränen nicht vergessen.

10


Wir begannen im Keller damit, alles auszusortieren, von dem wir uns trennen konnten. Was und wertlos erschien, warfen wir weg. Dinge, von denen wir annahmen, dass sie für andere Menschen einen gewissen Wert haben könnten, packten wir in als solche gekennzeichnete Verkaufskisten, die aus Bananenkartons bestanden, die ich zuvor in mühevoller Kleinarbeit aus den umliegenden Supermärkten herbeigeschafft hatte.
Ich begann wieder die Zeitung zu lesen. Ich ging zur Bank, um Lees Konto aufzulösen. Ich studierte die Kleinanzeigen und überlegte sogar, einen Job anzunehmen, falls das zusammengekratzte Geld nicht ausreichen sollte.
Was mir fehlte, war die Gewissheit, dass alles gut werden würde, dass mein Plan funktionieren würde. Aber an die Stelle der Gewissheit, trat das Kind. Seit ich es, weil die Ferien begonnen hatten, nahezu den ganzen Tag um mich hatte, wurden die Zweifel unwichtiger. Ich konnte sie aushalten und mit echter Überzeugung sagen, dass sie nicht waren im Vergleich zu ihm, unserem Kind.

Das Kind saß im Schneidersitz mir gegenüber. Ich hatte ihm ein Kissen auf den kalten Kellerboden gelegt, damit es sich nicht erkältete. Jeden Gegenstand, den ich beurteilt hatte, reichte ich weiter an das Kind, um sein Urteil abzuwarten. Wir hatten Unmengen von alten, muffig riechenden Büchern, manche davon waren mit waren mit seltsamen unleserlichen Buchstaben gedruckt, die weder das Kind noch ich entziffern konnten. Weder er noch ich konnten uns einen Reim darauf machen, woher sie stammen mochten. Sie landeten auf dem Unentschieden Stapel.
Wir hatten vier Haufen. Verkaufen, Behalten, Müll und Unentschieden.
Das hässliche Geschirr von meiner Mutter, das Lee und ich von Wohnung zu Wohnung geschleppt hatten, ohne es jemals benutzt zu haben, landete endlich auf dem Müllhaufen, obwohl das Kind einwendete, dass es vielleicht noch jemand gebrauchen könnten und wir es doch verkaufen sollten.
„Nein“, sagte ich, „das geht nicht. Ich kann unmöglich fremde Leute von diesen Tellern essen, aus diesen Tassen trinken lassen.“
„Und unser Geschirr?“, fragte das Kind.
Darüber hatte ich mir noch keine Gedanken gemacht.
„Wir könnten es einlagern lassen, falls wir wieder zurückkommen, irgendwann,“ sagte ich, „oder wir machen ein riesiges Scherbenfest, bevor wir verschwinden.“
Das Kind strahlte. Es wurde warum im Keller und ich schämte mich nicht für die Tränen, die ganz leise und ruhig an meinen Wangen hinab rollten. Fast als wollten sie mich streicheln.
Die Baby- und Kleinkindkleidung hatten wir aufbewahrt, weil wir uns immer ein zweites Kind gewünscht hatten. Und es war ja noch nicht zu spät. Lee war noch jung. Jetzt würden wir sie verkaufen, an Frauen mit dicken Bäuchen, mit Kinderwagen und nörgelnden Kleinkindern an der Hand.
Es erschöpfte mich, mich von so vielen Erinnerungen und Hoffnungen zu trennen.
„Was glaubst du, wieviel Geld wir verdienen werden?“, fragte das Kind, als wir uns nur noch um den Unentschieden Stapel kümmern mussten.
„Wenn wir alles loswerden, bringt uns allein der Kellerkram 100 € ein.“
„Wow, das ist viel.“
„Aber es ist viel mehr wert,“ sagte ich, „sogar die Sachen, die wir wegwerfen.“
„Du meinst mehr als Geld.“, sagte das Kind und ich war stolz und dankbar, dass Lee mir so ein prächtiges Kind hinterlassen hatte.

Ich fürchtete dem Kind kein guter Vater zu sein. Diese Sorge hatte ich von Anfang an, aber seit Lee tot war, war es anders. Schlimmer. Ich wollte ein Held sein, ein Vorbild, einer, der alles weiß, damit das Kind sich auf mich verlassen konnte, nicht damit es zu mir aufsah.
Seit Lee tot war, dachte ich wieder häufiger an die Briefe, die mein Vater mir geschrieben hatte.
„Ich bin mir sicher, es würde dir gut tun, darüber zu reden“, hatte Lee gesagt. Damals brauchte ich noch Zeit. Zeit, dachte ich, ist etwas, das uns niemand nehmen kann. Lee würde immer für mich da sein und ich für sie. Wir konnten warten, auf den richtigen Moment, auf das zweite Kind...
„Mich hat es immer enttäuscht, dass meine Eltern kaum Freunde hatten“, hatte Lee mir einmal erzählt. Daran erinnerte ich mich jetzt. „Ich hätte es schön gefunden, wenn häufiger Besuch da gewesen wäre, Erwachsene, denen ich zugehört hätte, ohne wirklich zu verstehen, was sie sagten.“
Das war etwas, dass ich für das Kind tun konnte. Ich kaufte Bier und Chips und rief Johannes an, meinen alten Freund Johannes.
„Brauchst du etwas?“, fragte er mich.
„Nur etwas Gesellschaft“, sagte ich.
Eine Viertelstunde später war er da. In der Hand hielt er einen durchsichtigen Plastikbehälter mit blauem Deckel.
„Birgits Gemüsegulasch“, sagte er während er mir den Behälter überreichte, „damit ihr mal wieder etwas ordentliches esst.“ Und im nächsten Moment:
„Ich hoffe, ich habe nichts Falsches gesagt.“ Ich schüttelte den Kopf.
„Lass nur.“
Da saßen wir nun auf meinem Balkon und sahen die Sonne untergehen, warteten darauf, dass uns trotz des Biers kalt werden würde, warteten wieder auf den richtigen Moment, etwas auszusprechen.
„Was hast du damals, als du noch klein warst, am meisten an deinem Vater bewundert?“, fragte ich.
„Du meinst, als ich so alt war, wie dein Sohn?“
Ich nickte.
„Na ja, ich erinnere mich daran, wie merkwürdig ich es fand, dass dein Spielzeug weggeworfen wurde, wenn etwas daran kaputt ging. Überhaupt, bei euch war immer etwas kaputt und deine Mutter jammerte darüber, dass sie kein Geld hätte schon wieder eine neue Waschmaschine zu kaufen, oder einen Herd oder Fernseher. Deine Mutter konnte ja nicht einmal die Sicherungen auswechseln, wenn sie rausgeflogen waren.“
„Und das hast du an deinem Vater bewundert?“
„Seine tiefschwarzen, ölverschmierten Hände, wenn er wieder einmal an unserem Auto herumgebastelt hatte, die haben mich schon beeindruckt.“
Wir schwiegen eine Weile, es ging ein leichter Wind, aber wirklich kühl wurde es nicht. Ich holte neues Bier und Chips.
„Wenn ich ihm helfen durfte war ich unwahrscheinlich stolz. Ich fühlte mich meiner Schwester überlegen, die nur meiner Mutter beim Kochen helfen durfte.“
„Und mir.“
„Ja, vielleicht. Aber du warst mein Freund. Und manchmal habe ich dich beneidet, weil du keinen Vater hattest, der dich anschreit, weil dein Zimmer nicht aufgeräumt ist, der dir Stubenarrest gibt, weil deine Noten nicht seinen Erwartungen entsprechen.“
„Meine Mutter hatte Angst, dass auch noch ich sie verlasse.“
„Und wie er Auto gefahren ist. Er hat alle überholt. Doch beim Autofahren war er mein Held.“
„Und jetzt?“
„Ist er ein alter Mann, der sich Enkel wünscht und an seiner Frau rumnörgelt.“
Ich erzählte Johannes nichts von den Briefen, die ich erst nach dem Tod meiner Mutter gefunden hatte, aber nach dem neunten oder zehnten Bier, tat ich etwas bedeutend Dümmeres. Ich erzählte ihm von dem Plan.
„Du bist verrückt“, sagte er, „das kannst du nicht machen. Du musst doch auch an das Kind denken.“
„Ich denke nur an das Kind. Das Kind ist doch der Grund, warum ich das tue.“
„Du läufst weg.“
„Ich will, dass er glücklich ist.“
„Indem du ihm die Zukunft verbaust.“
So ging es eine ganze Weile hin und her. Wenn mir nicht plötzlich speiübel geworden wäre, und Johannes den Zeitraum, den ich auf der Toilette verbracht hatte, nicht dazu genutzt hätte, zu verschwinden, hätten wir uns vermutlich geprügelt.
Dass ich sehr lange Zeit auf der Toilette verbracht hatte, weil ich dort wohl eingeschlafen war, erfuhr ich erst Tage später.
„Ich hätte es dir nicht erzählen dürfen.“
„Ich hätte dir erst einmal zuhören müssen.“

Montag, 20. Juni 2011

20.06.2011

Dort wo sie das Haus abgerissen haben, lässt sich seit sie das Dixi Klo aufgestellt haben, kein Arbeiter mehr sehen. Alles verwüstet, voller Bauschutt, allein das Fundament steht noch und zur Straße hin dieses Dixi Klo. Es sieht schlimm aus, ein bisschen, wie nach einem Bombenanschlag. Dann stehen dort noch zwei blaue Plastikstühle. Fast als wäre das ganze eine Installation.
Vielleicht sogar eine Installation für mich und meine Probleme beim Erzählen. Seit ich Lees Mann und das Kind immer besser kennenlerne, fällt es mir zunehmend schwerer über sie zu schreiben. Als wollte ich sie schützen, vor fremden Zugriffen, vor Mißverständnissen, als würde ich sie verraten, wenn ich weitergebe, was sie mir anvertrauen.
Und dann ist das ganze vielleicht nicht mehr, als ein Fundament, dem man alles andere weggerissen hat, und das nun wartet, wie es weitergeht, gut vorbereitet, aber leer.

Ich wünschte sie würden das hier spielen, auf Lees Beerdigung.

Halt

Wir vertrösten uns, legen eine fanatische Blässe auf unsere Gesichter. Schreiten voran und lassen zurück. Wir haben gelernt, nicht zurückzublicken. Tun wir es doch, erstarrt etwas in uns zur Salzsäule. Wie Tiere flüchten wir vor fremden Farben, stillen das Vergessen mit den Begriffen der Zeit.

Sonntag, 19. Juni 2011

Die Kulissen der Statisten

Nichtsahnend durchquerten wir das Leben. Man hielt uns für Statisten. Gewissenlos, unaufhaltsam, unberechenbar.
An den Rändern standen die weichen Surrealisten mit ihren getönten Blicken, den kreisenden Schultern und den geräuschlosen Blicken. Überheblich bemühten sie sich um tiefgreifende Veränderungen, aber letztendlich warf unser Schatten sie zurück auf die feststehende Kulisse einer unveränderlichen Natur.

Samstag, 18. Juni 2011

9


Natürlich sagte sie: „Warten Sie“, und folgte mir, aber im Grunde war sie erleichtert, dass ich ging.
Meine Gedanken setzten wieder ein. Irgendwie war ich dieser Frau dankbar. Sie war dumm und lästig. Sie hatte nichts verstanden und die falschen Worte aneinander gereiht, aber offensichtlich war es genau das, was mir gefehlt hatte, um wieder klar denken zu können,, um den Gedanken zulassen zu können, dass unser Leben auch nach Lees Tod weitergehen musste. Dass es mehr sein musste, als übrig zu bleiben. Wenigstens für das Kind.

Als ich nach Hause kam, lag der Brief in unserem Postkasten. Der Brief, von dem das Kind ein paar Tage zuvor gesprochen hatte. Aber er war nicht von Lees Mutter, sondern von einem Rechtsanwalt.
Ich hätte gerne Lee gefragt, was ich tun sollte. Ihr Vater und die Schule. Wir waren in Bedrängnis, das Kind und ich.

„Was hältst du davon, wenn wir heute zu Lees Grab gehen?“, fragte ich das Kind, als wir gemeinsam nach Hause gingen.
„Wie war das Gespräch?“
„Welches Gespräch?“
„In der Schule, du weißt schon.“
„Schrecklich.“
„Dachte ich mir schon.
Ja, gehen wir zu Lees Grab. Obwohl ich glaube, dass es mich furchtbar deprimieren wird.“

Als wir an Lees Grab standen, wusste ich, was zu tun war. Es waren noch drei Tage bis zu den Ferien. Und es gab noch mindestens drei schwerwiegende Probleme zu lösen. Was sollte mit Lees Sachen geschehen? Woher konnten wir genügend Geld bekommen und wie würden wir an ein geeignetes Fahrzeug kommen?

In den Nächten, in denen ich immer noch so wenig schlief wie zuvor, saß ich am Küchentisch und entwarf Pläne und Listen. Ich stellte Berechnungen an, die jeden Mathematiker um den Verstand gebracht hätten. Trotzdem hatte ich das Gefühl, vorwärts zu kommen. Etwas bewegte sich. Ich war unterwegs. Ich hatte ein Ziel.

Das Kind ging tapfer Tag für Tag in die Schule. Wir sprachen nie von den Ereignissen dort. Ich hielt es für überflüssig und das Kind schien kein Bedürfnis zu haben, darüber zu reden.

Es war nicht so, dass meine Gefühle zurückgekehrt waren, ich fühlte mich immer noch leer, aber etwas hatte sich verändert. Ich spürte, wie die Kraft langsam zurückkehrte, die Kraft, es mit dem Leben aufzunehmen.
Am Vormittag sah ich immer noch gern aus dem Fenster. Aber ich ließ die Fenster geschlossen. So sah ich nur die Menschen, wie sie ihre Lippen bewegten und es lag in meiner Macht, ihnen Worte in den Mund zu legen.
Ich ließ Mütter verständnisvoll auf die eingebildeten Krankheiten ihrer Kinder eingehen, auch wenn die Lüge noch so unbedarft vorgebracht worden war. Ich ließ sich streitende Liebende, erste versöhnende Worte sprechen, oder einen ganz intimen Witz machen, woraufhin sie unwillkürlich in Lachen ausbrachen und einander nicht länger böse sein konnten.
Ich fühlte mich mächtig. Ich konnte sogar Tote wieder lebendig machen. Allen Frauen gab ich Lees Stimme. Bis ich mich erinnerte, dass ich gleich mit dem Kind in eine leere Wohnung zurückkehren würde und dass diese Wohnung leer bleiben würde, auch am Abend, auch in er Nacht würde niemand dort sein, außer uns beiden. Unseren Gedanken und Sorgen. Unseren Erinnerungen, unserem Atem und unserer Traurigkeit.

Freitag, 17. Juni 2011

...

Einer behauptet, dass Friedhofsblumen grundsätzlich zweisprachig aufwachsen . Mich macht es traurig, dass ich sofort verstehe, was gemeint ist. Sofort, ohne nachzudenken.
Wäre ich doch mitgefahren, denke ich, auf diesem Schiff, das sich verirren würde. Wer den Kapitän jemals gesehen hat, wusste sofort, das ist ein Mann, dem man sich anvertrauen kann. Er wird niemals tun, was man von ihm verlangt, er wird nie sein Wort halten und immer vom Weg abkommen.
Einer, der anders ist als die tanzenden Tagelöhner, die ihren Weg gehen, ohne zu fragen, die das Schweigen immer wieder unter Myriaden von Worten begraben. Auf diese Weise, denken sie, bleibt ihnen die Sicherheit. Diese Sicherheit, die der Zweifel zerfrisst. Der Zweifel, der im Schweigen wächst, der sich von den unausgesprochenen Worten ernährt.
Und jetzt sind sie hier. Und ich, zu Hause geblieben, spreche mit den Friedhofsblumen. Aber es klingt nicht schön, in keiner der zwei Sprachen.

Schwarzweiß

Sie redeten jetzt viel von der Vergangenheit. Sie erklärten die Vergangenheit für einen Bezirk, den man nicht unerlaubt betreten darf und ordneten Fotos um sich herum, wie Schutzwälle. Die Fotos waren alt und schwarzweiß, und die Menschen, die darauf abgebildet waren, winzig klein und mitten in einer Bewegung erstarrt.
Das, sagten sie, sei der sicherste Weg, dem Tod zu entgehen.

8


Ich war erstaunt, wie freundlich der Raum wirkte. Es gab Grünpflanzen, Rattanmöbel, Bilder an den Wänden. Eine Frau saß in der Ecke. Sie schien mich nicht zu bemerken, weil sie so vertieft in die Papiere war, die sie sich auf den Schoß gelegt hatte.
Ich räusperte mich nicht. Ich machte nicht auf mich aufmerksam. Ich stand einfach da und wartete.
Ihre Schuhe fielen mir auf. Es waren hellbeige Cordschuhe, solche die ich in meiner Kindheit getragen hatte, und sie kamen mir ungeheuer groß vor.
„Es ist wichtig, gewissenhaft zu sein, finden Sie nicht?“, sage sie schließlich und ordnete die Papiere auf dem Tisch, bevor sie zu mir kam, mir die Hand entgegenstreckte und sagte: „Herr Kornicki, nehme ich an. Mein Name ist Voßwinkel. Ich bin die Klassenlehrerin Ihres Sohnes. Nehmen Sie doch Platz.“
Wir schüttelten einander die Hände und setzten uns.
„Mein Vater hat Briefe an mich geschrieben. Viele Briefe. Liebevolle Briefe. Ich erfuhr erst nach dem Tod meiner Mutter davon.“
Frau Voßwinkel sah mich irritiert an. „Das tut mir leid.“
„Schon gut,“ sagte ich, „Lee zu verlieren war schlimmer.“
Sie sagte nichts, blätterte in ihren Papieren und atmete laut und unruhig ein und aus. Vermutlich wusste sie nicht, was sie von mir halten sollte und ich wusste nicht, was ich von diesem Eindruck halten sollte, den ich bei ihr hinterließ.
„Leid“, sagte ich, „ist so ein großes Wort. So ähnlich wie eine Farbe. Jeder weiß, was gemeint ist, aber wenn man genau hinsieht, stellt sich jeder etwas anderes vor.
Im Stadtpark von Hiroshima fand zum Zeitpunkt des Abwurfs der Atombombe eine Schachpartie zwischen zwei Großmeistern statt, viele Zuschauer waren da und das Fernsehen, um das Ereignis zu filmen. Übrig blieben nur die weißen Schachfiguren auf den weißen Feldern. Das hat etwas mit Physik zu tun“, sagte ich, „ich verstehe nichts von Physik. Aber vielleicht hat es nicht nur mit Physik zu tun, oder die Physik hat etwas damit sagen wollen. Weiß ist schließlich die älteste Farbe der Trauer. Also sind nur die trauernden Figuren übrig geblieben.“
Ich hatte ein enormes Bedürfnis, über den Tod zu reden.
„Ich verstehe Ihre Situation.“
„Nein, das tun Sie nicht.“
„Aber wir müssen über Ihren Sohn reden.“
„Was ist mit ihm?“
„Er ist nicht ansprechbar. Er reagiert auf nichts. Wir glauben er braucht Hilfe.“
„Warum helfen Sie ihm dann nicht?“
„Ich meine weiterreichende Hilfe. Die Situation, wie sie sich derzeit darstellt, geht über unsere Möglichkeiten. Sehen Sie, wir alle halten es für das Beste, wenn Sie mit ihm einen Therapeuten...“
„Am besten für wen?“
„Ich will Ihnen doch nur helfen.“
„Ich denke dem Kind wollen Sie helfen. Deswegen bin ich doch hier.“
„Das schafft niemand allein. Sie brauchen auch Hilfe.“
„Wenn Sie hören könnten, was für einen Unsinn Sie reden. Die Einzige, die uns helfen könnte, ist Lee. Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte.“

Donnerstag, 16. Juni 2011

Farben

Niemand lauschte uns die Träume ab, resignierte vor den Salzspuren, die sich im Nirgendwo verloren. Alle waren tapfer, um Aufrichtigkeit bemüht. Ich vertauschte meine Sandalen mit den Gummistiefeln meines Bruders und wartete auf die nächste Mahlzeit.
Manchmal verirrte ich mich zwischen den Zeiträumen. Fand mich nicht mehr zurecht. Dann lag über allem ein Schleier. Eine Art Vergeßlichkeit, die die Tage versiegelte. Vergeblich legten wir den Gedanken Gewicht an, damit sie nicht unbemerkt verfliegen.

7


Ich wartete lange. Das Warten hatte sich geändert, seit Lee nicht mehr da war. Es hatte nichts mehr mit Uhren und viel zu langsam vorrückenden Zeigern zu tun, nichts mit Ungeduld. Das Warten war jetzt mein Leben. Das Kind und das Warten. Etwas anderes gab es nicht.

„Sie hat noch nicht geschrieben, oder?“, fragte das Kind, als wir unsere Teller beiseite geschoben hatten.
„Wen meinst du?“, fragte ich.
Das Kind ließ sich Zeit mit seiner Antwort.
Ich fürchtete, es meinte Lee.
„Oma.“
„Warum sollte sie schreiben?“
„Sie hat mit mir gesprochen?“
„Und?“
„Du weißt doch, sie glaubt, Lee wäre tot.“
Ich nickte.
„Ich soll zu ihnen ziehen. Opa will es.“
Ich schwieg. Es war keine Überraschung, aber diese erneute Bestätigung machte mich unendlich müde und hilflos. Ich hätte weinen können, weil ich nicht einmal wütend wurde. Nicht einmal das machte mich wütend.
„Sie hat mich gefragt, ob ich es auch will.“
Ich sah das Kind an. Seine Augen hatten die Farbe von Lees Augen. Es war als sähe Lee mich an. Das Kind hatte ihre Züge. Seine Lippen zitterten.
„Und willst du?“, fragte ich.
Das Kind lachte.
„Du spinnst“, sagte es.
Es war das erste Mal seit Lees Tod, dass wir miteinander lachten.
„Was genau hast du ihr gesagt?“
„Sie war auf dem Schulhof. In der Pause stand sie am Rand des Pausenhofs und hat mich zu sich gewunken. Sie hatte ganz weiße Kleider an. So wie in deiner Geschichte von den Trauernden früher und anderswo. Ich glaube sie macht das, damit sie ihre Trauer für sich allein hat, um zu zeigen, dass es nicht dasselbe ist, wie bei Opa.“
So viel hatte das Kind selten gesprochen. Als hätte Lee sterben müssen, damit das Kind lebendig wurde. Ich schämte mich für meine Gedanken.
„Ich habe ihr gesagt, dass das natürlich nicht geht, aber dass sie uns immer besuchen kann. Schließlich ist sie Lees Mutter“, sagte das Kind, „das darfst du nicht vergessen.“
Von dem Brief sagte das Kind nichts.

Der Sommer blieb verregnet. Nur ab und zu gab es sonnige Tage.
Die Zeit wenn das Kind in der Schule war, verbrachte ich jetzt damit, Lees Schubladen und Schränke zu öffnen. Zu meiner Überraschung war sie vollkommen geheimnislos. Es gab keine versteckten Briefe, nichts, das ich nicht kannte.

Dann wurde ich zu einem Gespräch in die Schule eingeladen, weil das Kind sich auffällig benahm, über das Maß dessen hinaus, was man angesichts seiner bedauerlichen persönlichen Situation hinnehmen konnte. Also ging ich in das muffige, nach Schule riechende, Schulhaus und fragte mich zum Lehrerzimmer durch. Ich fragte nur Kinder.
„Was wollen Sie denn da?“, fragte ein ziemlich hässlicher übergewichtiger Junge.
„Ich weiß nicht“, sagte ich, „ vermutlich eine Strafarbeit abholen.“
Er grinste. Die Antwort schien ihn zu befriedigen. Jedenfalls führte er mich direkt vor die Tür des Lehrerzimmers.
Die Tür war dunkelgrün gestrichen und stand einen Spalt breit offen. Ich klopfte. Scheinbar hörte mich niemand. Also öffnete ich die Tür und trat ein.

Mittwoch, 15. Juni 2011

6


Die Post in unserem Briefkasten, öffnete ich nur noch selten. Die floskelhaften Beileidsbekundungen verursachten mir Übelkeit.

Das Kind ging jetzt wieder zur Schule und wenn ich nicht ganze Vormittage lang aus dem Fenster sah, ohne etwas wahrzunehmen, blätterte ich lustlos in den gelben Seiten auf der Suche nach einem Anwalt, der mir die Rechtslage erklären könnte. Ich hatte auch schon einige Male den Hörer in die Hand genommen. Soweit, dass ich eine Nummer gewählt hätte, brachte ich es nie.

Einmal träumte ich von Lee. Sei hatte einen Dreitagebart, ihre schönen Brüste waren verschwunden und mit einer ungewohnt tiefen Stimme sagte sie zu mir: „Wenn du mich wirklich liebst, willst du mich auch als Mann.“
Ich wollte ihr widersprechen, mit ihr darüber streiten, aber stattdessen sagte ich nur: „Ich habe es immer so geliebt, wie du deine Tasche vor den Körper gehalten hast, während wir auf die U-Bahn warteten.“

Die Tage waren wohltuend gleichmäßig. Nicht einmal das Wetter änderte sich. Der Himmel blieb grau. Morgens brachte ich das Kind zur Schule, dann ging ich nach Hause und suchte stundenlang in allen Zimmern nach einem klaren Gedanken, bis es Zeit wurde, das Kind abzuholen, ihm Essen zu kochen, zu fragen, wie es in der Schule war und tapfer zu lächeln.
Das Kind sang ein Lied, das ich nicht kannte. Ich wartete, bis es zu mir kommen würde, mich bitten würde, ihm eine Geschichte vorzulesen, mit ihm auf den Hof zu gehen.

Täler


Wir benutzen uns. Wir nutzen uns ab. Wir schleifen die Wörter und setzen unserer Rede die Narrenkappe auf.
Fern von uns, in den Tälern, sterben die kleinen Tiere. Dort bringen wir unsere Tränen in Sicherheit, versiegeln sie und halten es für Vollkommenheit.

Dienstag, 14. Juni 2011

Was in den Blicken liegt

Es gelingt ihr nicht, Mitleid in ihren Blick zu legen, nicht einmal für sich selbst. Wenn sie es versucht, erkennt sie sofort den schäbigen Geschmack der Lüge, der fehlenden Aufrichtigkeit. Sie könnte die Menschen beschreiben. Vielleicht. Ihre Augen, ihre Haltung, Gestik und Erscheinung. Aber es gibt keine Gerüche, kaum Farben. Seit sie hier ist, riecht sie nichts. Keinen der Menschen, nicht einmal die Gerüche im Speisesaal.
Morgens sah sie einen Mann an seinem Tisch sitzen, und es gingen ihr Worte durch den Kopf, seine mildtätige Arglosigkeit, das kindliche Zutrauen. Sie dachte daran, ihn zu einer Figur in einer Geschichte zu machen. Jemand, der zutiefst zutraulich und harmlos, freundlich und tatsächlich arglos erscheint und dann ähnlich mitleidlos und kaltblütig ist wie manche Figuren in französischen Filmen und Büchern. Jetzt da sie es niederschreibt, denkt sie an Simenon und den Mann der den Zügen hinterhersah. Es gibt so viele Bücher, die sie noch einmal lesen möchte und so viele, die sie noch gar nicht gelesen hat. Und es ist nicht mehr viel Zeit. Und doch gibt es immer wieder erstaunliche Umrundungen der Wirklichkeit.

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