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Donnerstag, 16. Juni 2011

Farben

Niemand lauschte uns die Träume ab, resignierte vor den Salzspuren, die sich im Nirgendwo verloren. Alle waren tapfer, um Aufrichtigkeit bemüht. Ich vertauschte meine Sandalen mit den Gummistiefeln meines Bruders und wartete auf die nächste Mahlzeit.
Manchmal verirrte ich mich zwischen den Zeiträumen. Fand mich nicht mehr zurecht. Dann lag über allem ein Schleier. Eine Art Vergeßlichkeit, die die Tage versiegelte. Vergeblich legten wir den Gedanken Gewicht an, damit sie nicht unbemerkt verfliegen.

7


Ich wartete lange. Das Warten hatte sich geändert, seit Lee nicht mehr da war. Es hatte nichts mehr mit Uhren und viel zu langsam vorrückenden Zeigern zu tun, nichts mit Ungeduld. Das Warten war jetzt mein Leben. Das Kind und das Warten. Etwas anderes gab es nicht.

„Sie hat noch nicht geschrieben, oder?“, fragte das Kind, als wir unsere Teller beiseite geschoben hatten.
„Wen meinst du?“, fragte ich.
Das Kind ließ sich Zeit mit seiner Antwort.
Ich fürchtete, es meinte Lee.
„Oma.“
„Warum sollte sie schreiben?“
„Sie hat mit mir gesprochen?“
„Und?“
„Du weißt doch, sie glaubt, Lee wäre tot.“
Ich nickte.
„Ich soll zu ihnen ziehen. Opa will es.“
Ich schwieg. Es war keine Überraschung, aber diese erneute Bestätigung machte mich unendlich müde und hilflos. Ich hätte weinen können, weil ich nicht einmal wütend wurde. Nicht einmal das machte mich wütend.
„Sie hat mich gefragt, ob ich es auch will.“
Ich sah das Kind an. Seine Augen hatten die Farbe von Lees Augen. Es war als sähe Lee mich an. Das Kind hatte ihre Züge. Seine Lippen zitterten.
„Und willst du?“, fragte ich.
Das Kind lachte.
„Du spinnst“, sagte es.
Es war das erste Mal seit Lees Tod, dass wir miteinander lachten.
„Was genau hast du ihr gesagt?“
„Sie war auf dem Schulhof. In der Pause stand sie am Rand des Pausenhofs und hat mich zu sich gewunken. Sie hatte ganz weiße Kleider an. So wie in deiner Geschichte von den Trauernden früher und anderswo. Ich glaube sie macht das, damit sie ihre Trauer für sich allein hat, um zu zeigen, dass es nicht dasselbe ist, wie bei Opa.“
So viel hatte das Kind selten gesprochen. Als hätte Lee sterben müssen, damit das Kind lebendig wurde. Ich schämte mich für meine Gedanken.
„Ich habe ihr gesagt, dass das natürlich nicht geht, aber dass sie uns immer besuchen kann. Schließlich ist sie Lees Mutter“, sagte das Kind, „das darfst du nicht vergessen.“
Von dem Brief sagte das Kind nichts.

Der Sommer blieb verregnet. Nur ab und zu gab es sonnige Tage.
Die Zeit wenn das Kind in der Schule war, verbrachte ich jetzt damit, Lees Schubladen und Schränke zu öffnen. Zu meiner Überraschung war sie vollkommen geheimnislos. Es gab keine versteckten Briefe, nichts, das ich nicht kannte.

Dann wurde ich zu einem Gespräch in die Schule eingeladen, weil das Kind sich auffällig benahm, über das Maß dessen hinaus, was man angesichts seiner bedauerlichen persönlichen Situation hinnehmen konnte. Also ging ich in das muffige, nach Schule riechende, Schulhaus und fragte mich zum Lehrerzimmer durch. Ich fragte nur Kinder.
„Was wollen Sie denn da?“, fragte ein ziemlich hässlicher übergewichtiger Junge.
„Ich weiß nicht“, sagte ich, „ vermutlich eine Strafarbeit abholen.“
Er grinste. Die Antwort schien ihn zu befriedigen. Jedenfalls führte er mich direkt vor die Tür des Lehrerzimmers.
Die Tür war dunkelgrün gestrichen und stand einen Spalt breit offen. Ich klopfte. Scheinbar hörte mich niemand. Also öffnete ich die Tür und trat ein.

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