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Juni 2011
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Samstag, 18. Juni 2011

9


Natürlich sagte sie: „Warten Sie“, und folgte mir, aber im Grunde war sie erleichtert, dass ich ging.
Meine Gedanken setzten wieder ein. Irgendwie war ich dieser Frau dankbar. Sie war dumm und lästig. Sie hatte nichts verstanden und die falschen Worte aneinander gereiht, aber offensichtlich war es genau das, was mir gefehlt hatte, um wieder klar denken zu können,, um den Gedanken zulassen zu können, dass unser Leben auch nach Lees Tod weitergehen musste. Dass es mehr sein musste, als übrig zu bleiben. Wenigstens für das Kind.

Als ich nach Hause kam, lag der Brief in unserem Postkasten. Der Brief, von dem das Kind ein paar Tage zuvor gesprochen hatte. Aber er war nicht von Lees Mutter, sondern von einem Rechtsanwalt.
Ich hätte gerne Lee gefragt, was ich tun sollte. Ihr Vater und die Schule. Wir waren in Bedrängnis, das Kind und ich.

„Was hältst du davon, wenn wir heute zu Lees Grab gehen?“, fragte ich das Kind, als wir gemeinsam nach Hause gingen.
„Wie war das Gespräch?“
„Welches Gespräch?“
„In der Schule, du weißt schon.“
„Schrecklich.“
„Dachte ich mir schon.
Ja, gehen wir zu Lees Grab. Obwohl ich glaube, dass es mich furchtbar deprimieren wird.“

Als wir an Lees Grab standen, wusste ich, was zu tun war. Es waren noch drei Tage bis zu den Ferien. Und es gab noch mindestens drei schwerwiegende Probleme zu lösen. Was sollte mit Lees Sachen geschehen? Woher konnten wir genügend Geld bekommen und wie würden wir an ein geeignetes Fahrzeug kommen?

In den Nächten, in denen ich immer noch so wenig schlief wie zuvor, saß ich am Küchentisch und entwarf Pläne und Listen. Ich stellte Berechnungen an, die jeden Mathematiker um den Verstand gebracht hätten. Trotzdem hatte ich das Gefühl, vorwärts zu kommen. Etwas bewegte sich. Ich war unterwegs. Ich hatte ein Ziel.

Das Kind ging tapfer Tag für Tag in die Schule. Wir sprachen nie von den Ereignissen dort. Ich hielt es für überflüssig und das Kind schien kein Bedürfnis zu haben, darüber zu reden.

Es war nicht so, dass meine Gefühle zurückgekehrt waren, ich fühlte mich immer noch leer, aber etwas hatte sich verändert. Ich spürte, wie die Kraft langsam zurückkehrte, die Kraft, es mit dem Leben aufzunehmen.
Am Vormittag sah ich immer noch gern aus dem Fenster. Aber ich ließ die Fenster geschlossen. So sah ich nur die Menschen, wie sie ihre Lippen bewegten und es lag in meiner Macht, ihnen Worte in den Mund zu legen.
Ich ließ Mütter verständnisvoll auf die eingebildeten Krankheiten ihrer Kinder eingehen, auch wenn die Lüge noch so unbedarft vorgebracht worden war. Ich ließ sich streitende Liebende, erste versöhnende Worte sprechen, oder einen ganz intimen Witz machen, woraufhin sie unwillkürlich in Lachen ausbrachen und einander nicht länger böse sein konnten.
Ich fühlte mich mächtig. Ich konnte sogar Tote wieder lebendig machen. Allen Frauen gab ich Lees Stimme. Bis ich mich erinnerte, dass ich gleich mit dem Kind in eine leere Wohnung zurückkehren würde und dass diese Wohnung leer bleiben würde, auch am Abend, auch in er Nacht würde niemand dort sein, außer uns beiden. Unseren Gedanken und Sorgen. Unseren Erinnerungen, unserem Atem und unserer Traurigkeit.

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