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Juni 2011
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Wir begannen im Keller damit, alles auszusortieren, von dem wir uns trennen konnten. Was und wertlos erschien, warfen wir weg. Dinge, von denen wir annahmen, dass sie für andere Menschen einen gewissen Wert haben könnten, packten wir in als solche gekennzeichnete Verkaufskisten, die aus Bananenkartons bestanden, die ich zuvor in mühevoller Kleinarbeit aus den umliegenden Supermärkten herbeigeschafft hatte.
Ich begann wieder die Zeitung zu lesen. Ich ging zur Bank, um Lees Konto aufzulösen. Ich studierte die Kleinanzeigen und überlegte sogar, einen Job anzunehmen, falls das zusammengekratzte Geld nicht ausreichen sollte.
Was mir fehlte, war die Gewissheit, dass alles gut werden würde, dass mein Plan funktionieren würde. Aber an die Stelle der Gewissheit, trat das Kind. Seit ich es, weil die Ferien begonnen hatten, nahezu den ganzen Tag um mich hatte, wurden die Zweifel unwichtiger. Ich konnte sie aushalten und mit echter Überzeugung sagen, dass sie nicht waren im Vergleich zu ihm, unserem Kind.

Das Kind saß im Schneidersitz mir gegenüber. Ich hatte ihm ein Kissen auf den kalten Kellerboden gelegt, damit es sich nicht erkältete. Jeden Gegenstand, den ich beurteilt hatte, reichte ich weiter an das Kind, um sein Urteil abzuwarten. Wir hatten Unmengen von alten, muffig riechenden Büchern, manche davon waren mit waren mit seltsamen unleserlichen Buchstaben gedruckt, die weder das Kind noch ich entziffern konnten. Weder er noch ich konnten uns einen Reim darauf machen, woher sie stammen mochten. Sie landeten auf dem Unentschieden Stapel.
Wir hatten vier Haufen. Verkaufen, Behalten, Müll und Unentschieden.
Das hässliche Geschirr von meiner Mutter, das Lee und ich von Wohnung zu Wohnung geschleppt hatten, ohne es jemals benutzt zu haben, landete endlich auf dem Müllhaufen, obwohl das Kind einwendete, dass es vielleicht noch jemand gebrauchen könnten und wir es doch verkaufen sollten.
„Nein“, sagte ich, „das geht nicht. Ich kann unmöglich fremde Leute von diesen Tellern essen, aus diesen Tassen trinken lassen.“
„Und unser Geschirr?“, fragte das Kind.
Darüber hatte ich mir noch keine Gedanken gemacht.
„Wir könnten es einlagern lassen, falls wir wieder zurückkommen, irgendwann,“ sagte ich, „oder wir machen ein riesiges Scherbenfest, bevor wir verschwinden.“
Das Kind strahlte. Es wurde warum im Keller und ich schämte mich nicht für die Tränen, die ganz leise und ruhig an meinen Wangen hinab rollten. Fast als wollten sie mich streicheln.
Die Baby- und Kleinkindkleidung hatten wir aufbewahrt, weil wir uns immer ein zweites Kind gewünscht hatten. Und es war ja noch nicht zu spät. Lee war noch jung. Jetzt würden wir sie verkaufen, an Frauen mit dicken Bäuchen, mit Kinderwagen und nörgelnden Kleinkindern an der Hand.
Es erschöpfte mich, mich von so vielen Erinnerungen und Hoffnungen zu trennen.
„Was glaubst du, wieviel Geld wir verdienen werden?“, fragte das Kind, als wir uns nur noch um den Unentschieden Stapel kümmern mussten.
„Wenn wir alles loswerden, bringt uns allein der Kellerkram 100 € ein.“
„Wow, das ist viel.“
„Aber es ist viel mehr wert,“ sagte ich, „sogar die Sachen, die wir wegwerfen.“
„Du meinst mehr als Geld.“, sagte das Kind und ich war stolz und dankbar, dass Lee mir so ein prächtiges Kind hinterlassen hatte.

Ich fürchtete dem Kind kein guter Vater zu sein. Diese Sorge hatte ich von Anfang an, aber seit Lee tot war, war es anders. Schlimmer. Ich wollte ein Held sein, ein Vorbild, einer, der alles weiß, damit das Kind sich auf mich verlassen konnte, nicht damit es zu mir aufsah.
Seit Lee tot war, dachte ich wieder häufiger an die Briefe, die mein Vater mir geschrieben hatte.
„Ich bin mir sicher, es würde dir gut tun, darüber zu reden“, hatte Lee gesagt. Damals brauchte ich noch Zeit. Zeit, dachte ich, ist etwas, das uns niemand nehmen kann. Lee würde immer für mich da sein und ich für sie. Wir konnten warten, auf den richtigen Moment, auf das zweite Kind...
„Mich hat es immer enttäuscht, dass meine Eltern kaum Freunde hatten“, hatte Lee mir einmal erzählt. Daran erinnerte ich mich jetzt. „Ich hätte es schön gefunden, wenn häufiger Besuch da gewesen wäre, Erwachsene, denen ich zugehört hätte, ohne wirklich zu verstehen, was sie sagten.“
Das war etwas, dass ich für das Kind tun konnte. Ich kaufte Bier und Chips und rief Johannes an, meinen alten Freund Johannes.
„Brauchst du etwas?“, fragte er mich.
„Nur etwas Gesellschaft“, sagte ich.
Eine Viertelstunde später war er da. In der Hand hielt er einen durchsichtigen Plastikbehälter mit blauem Deckel.
„Birgits Gemüsegulasch“, sagte er während er mir den Behälter überreichte, „damit ihr mal wieder etwas ordentliches esst.“ Und im nächsten Moment:
„Ich hoffe, ich habe nichts Falsches gesagt.“ Ich schüttelte den Kopf.
„Lass nur.“
Da saßen wir nun auf meinem Balkon und sahen die Sonne untergehen, warteten darauf, dass uns trotz des Biers kalt werden würde, warteten wieder auf den richtigen Moment, etwas auszusprechen.
„Was hast du damals, als du noch klein warst, am meisten an deinem Vater bewundert?“, fragte ich.
„Du meinst, als ich so alt war, wie dein Sohn?“
Ich nickte.
„Na ja, ich erinnere mich daran, wie merkwürdig ich es fand, dass dein Spielzeug weggeworfen wurde, wenn etwas daran kaputt ging. Überhaupt, bei euch war immer etwas kaputt und deine Mutter jammerte darüber, dass sie kein Geld hätte schon wieder eine neue Waschmaschine zu kaufen, oder einen Herd oder Fernseher. Deine Mutter konnte ja nicht einmal die Sicherungen auswechseln, wenn sie rausgeflogen waren.“
„Und das hast du an deinem Vater bewundert?“
„Seine tiefschwarzen, ölverschmierten Hände, wenn er wieder einmal an unserem Auto herumgebastelt hatte, die haben mich schon beeindruckt.“
Wir schwiegen eine Weile, es ging ein leichter Wind, aber wirklich kühl wurde es nicht. Ich holte neues Bier und Chips.
„Wenn ich ihm helfen durfte war ich unwahrscheinlich stolz. Ich fühlte mich meiner Schwester überlegen, die nur meiner Mutter beim Kochen helfen durfte.“
„Und mir.“
„Ja, vielleicht. Aber du warst mein Freund. Und manchmal habe ich dich beneidet, weil du keinen Vater hattest, der dich anschreit, weil dein Zimmer nicht aufgeräumt ist, der dir Stubenarrest gibt, weil deine Noten nicht seinen Erwartungen entsprechen.“
„Meine Mutter hatte Angst, dass auch noch ich sie verlasse.“
„Und wie er Auto gefahren ist. Er hat alle überholt. Doch beim Autofahren war er mein Held.“
„Und jetzt?“
„Ist er ein alter Mann, der sich Enkel wünscht und an seiner Frau rumnörgelt.“
Ich erzählte Johannes nichts von den Briefen, die ich erst nach dem Tod meiner Mutter gefunden hatte, aber nach dem neunten oder zehnten Bier, tat ich etwas bedeutend Dümmeres. Ich erzählte ihm von dem Plan.
„Du bist verrückt“, sagte er, „das kannst du nicht machen. Du musst doch auch an das Kind denken.“
„Ich denke nur an das Kind. Das Kind ist doch der Grund, warum ich das tue.“
„Du läufst weg.“
„Ich will, dass er glücklich ist.“
„Indem du ihm die Zukunft verbaust.“
So ging es eine ganze Weile hin und her. Wenn mir nicht plötzlich speiübel geworden wäre, und Johannes den Zeitraum, den ich auf der Toilette verbracht hatte, nicht dazu genutzt hätte, zu verschwinden, hätten wir uns vermutlich geprügelt.
Dass ich sehr lange Zeit auf der Toilette verbracht hatte, weil ich dort wohl eingeschlafen war, erfuhr ich erst Tage später.
„Ich hätte es dir nicht erzählen dürfen.“
„Ich hätte dir erst einmal zuhören müssen.“

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Zuletzt aktualisiert: 6. Apr, 12:59

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